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Kinder-Zeugen


Eine gesellschaftskritische Kurzgeschichte, mit welcher ich mich einst vergebens bei diversen Literatur-wett-bewerben bewarb:
 
Morgens aus dem Bett kriechen,
sich Kleider über nackte Körperstellen ziehen.
Hier ein Marmeladenbrot,
dort ein Abschiedskuss für die Ehefrau, 
die Kinder in die Schule und den Kindergarten fahren.
Alles wie jeden Tag.

Arbeiten gehen,
die Heimfahrt antreten.
Alltagsroutine!
Nur der heutige scheiß Tag ist anders.
Alltagsruine!
Inzwischen ist es scheiß Abend geworden. Und dunkel.

Müsste längst daheim sein. 
Das Licht meines Mobiltelefons leuchtet auf. Es folgt der zigste Anruf in Abwesenheit. Und weitere werden folgen.
Bis die Polizei gerufen wird.
Und mein Wagen macht Geräusche, als wolle er sagen:

„Alter, mach kein Scheiß!“
und klingt doch eher nach eitriger Angina.
Durch das offene Fenster weht kalte Luft durch mein Resthaar.
Kalte Luft! Und ich schwitze, als wäre ich einer dieser Bauarbeiter, die bei sengender Hitze ihren Arbeitsfrust frönen.
Das Motorengeräusch klingt monoton. Ließe sich doch gut einschlafen dabei. Dann würde es wie ein Unfall aussehen.

Schalte stattdessen das Radio an und werde vom monoton klingenden Radiomann zum Lachen gebracht,
als er von sinkenden Arbeitslosenzahlen berichtet.
Ich schalte das Radio aus und mir geht die
Frage durch den Kopf, wie lange mein fetter
Körper wohl gleich einfach so unter Wasser
bleibt, bevor er gefunden wird.

Dann plötzlich leichte Zweifel.
Und Tränen im Gesicht. 
Und auf den Lippen. Sie sorgen für einen leicht bitteren
Beigeschmack. Meine Tränen schmecken wie Gin-Tonic!

Ich habe Gin-Tonic noch nie gemocht.
Denke an meine zehnjährige Tochter. Der ganze Stolz der
Familie. Aus ihr wird mal was werden.

Was auch immer.
Vielleicht Bundeskanzlerin?
Vielleicht Vorstandschefin eines überdimensionalen Dax-Unternehmens?
Vielleicht entlässt sie dann auch Familienväter nach mehr als zehnjähriger Betriebszugehörigkeit ins Nichts?

Bis heute hatte sie eine absolut unbeschwerte Kindheit.
Ab morgen dann eine unbeschwerte Kindheit ohne Papa.
Der stellt sich gerade vor, wie es gestern war,
als ihr rotes Haar ihm beim zu Bett bringen im
Gesicht kitzelte und Papa das Gefühl hatte,
dass selbst ihre Sommersprossen wenigstens
ein kleines Schmunzeln für ihn übrig hätten.
Und wieder Lächeln.

Wo doch eigentlich nur Traurigkeit ist.
Mein jüngster Sohn, fünf Jahre alt! Peter!
Kommt bald in die Schule.

Wird das auch ohne Papa meistern.
Er ist ein Kämpfer.
Im Gegensatz zu seinem Vater.
Der ist ein Duckmäuser und ein Nichtsnutz! Einer, der das
nie gelernt hat mit dem Kämpfen.

Ich sehe Peters Ringellocken neben mir. Spüre seinen
individuellen Peter-Duft in meine Nase steigen.
Ein Geruchsmischung aus Schlamm und Bananenmilch.

Ich weiß, er wird mich vermissen.
Und ich ihn eventuell auch.
Aber das weiß ich gar nicht, denn ich kann nur sagen,
was gleich kommt. Nicht, was danach sein wird. 

Vielleicht ein Leben ohne Sorgen? 
Oder gar kein Leben?
Lebt Paul eigentlich noch? Paul!
Mein verstoßener, weil missratener 18-jähriger Sohn. Das beste Beispiel dafür, dass meine Frau in der Erziehung mehr als kläglich versagte.

Er setzte den Ruf der Familie aufs Spiel.
Wollte nicht arbeiten gehen.

Aber da, wo wir wohnen, gibt es keine Arbeitslosen.
Da muss der Schein gewahrt werden.
Was sollen auch die Nachbarn denken?
Wenn du in bayerischen Kleinstädten arbeitslos bist oder als
Familienoberhaupt nicht für deine Familie sorgen kannst,

redet man über dich.
Über den Versager,
der nicht in der Lage ist, seine Familie zu ernähren.
Ohne Arbeit bin ich endgültig kein richtiger Mann mehr.

Erste Zweifel daran kamen auf, als meine Ehefrau mich nur noch rangelassen hat,
um noch weitere Probleme zu zeugen.
Kinder-Zeugen, 

die ein glückliches Familienbild bestätigen sollten
vor dem ständig tagenden Nachbarschaftsschwurgericht. Ansonsten war da nichts mehr.
Kein Sex mehr.
Keine Nähe!
Seit das letzte Mal meine fetten Samen mit der Eizelle meiner Ehegattin Eins wurden.
Ich mache ihr keine Vorwürfe. Ich hätte mich ja selbst auch nicht mehr rangelassen.
Maria ist eine korpulente Gattin geworden. Sie und ich,
beide seit langem mit uns selbst unzufrieden.
Und ich konnte mir nie vorstellen, dass eine Frau
absolut keinen Bock mehr auf Ficken hat.

Hat sie mich vielleicht sogar betrogen?
Ich beschleunige das Auto. 
Irgendwann machte ich aus Sexheftchen und Internetpornoseiten kein Geheimnis mehr. Irgendwo musste der Druck doch bleiben.
Nur den gesellschaftlichen Druck, den konnte man nicht einfach ins
Taschentuch wichsen.

Großes Haus,
großes Auto, 
große Familie,
große Ratenzahlungen.
Die uns finanziell überforderten. Aber das sah ja niemand.

Und jetzt ist es nicht mehr zu bezahlen. 
Seit meine Chefin heute Personalabbau verkündete, und auch mich
kündigte, ist mein Leben nicht mehr leb-bar.
Ich möchte Schande von meiner Familie fernhalten.

Aber eigentlich doch nur von mir selbst.
Ich liebte schon immer das Wasser.

Habe geplant, im noch drei Kilometer entfernten Badesee
unterzugehen,

bevor mein gesellschaftliches Ansehen baden geht. 
Mein ganzes Leben war bisher komplett durchgeplant. 
Und mein Kopf ist voll.
Die tausend Gedanken müssen raus.
Raus! Raus! Raus!
Vielleicht noch einmal im Leben spontan sein? 

Einmal im Leben lernen,
dass spontane Aktionen einem doch so viel mehr geben können, als völlig durchorganisierte und dann trotzdem enttäuschende Abläufe.
Meine Finger bedienen noch einmal das Radio.
 

„Ein Hoch auf uns
Auf dieses Leben
Auf den Moment
Der immer bleibt
Ein Hoch auf uns
Auf jetzt und ewig
Auf einen Tag
Unendlichkeit
Wir haben Flügel, schwör'n uns ewige Treue
Vergeuden uns diesen Tag
Ein Leben lang ohne Reue
Vom ersten Schritt bis ins Grab“


Ich sehe die Kurve vor mir.

Halte das Lenkrad fest.
Verzichte spontan auf den Badesee.
Dann wird aus Asphalt Wiese. 
Aus freier Sicht ein Baum. 
Und ich lasse meinen Gedanken freien Lauf

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