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Flensburg - dritter Tag

Um eines vorwegzunehmen: Wer mit dem 9-Euro-Ticket verreist und sich über überfüllte Züge beschwert, fährt im Sommer auch nach Südeuropa und beklagt sich, dass es dort zu warm ist.
Der dritte Teil soll keine Nörgelschrift werden und ich möchte das 9-Euro-Ticket auch nicht bewerten. Nur zwei Sachen stehen für mich fest:

Diese Art des preiswerten Reisens ist nicht für Strecken gedacht, für die man selbst mit dem Fernzug mehrere Stunden benötigt.
Und das in Zügen ALLE WCs defekt sind, hat nichts mit dem 9-Euro-Ticket zu tun. Aber auch hier möchte ich mich nicht auf Ursachenforschung begeben, sondern vom dritten und letzten Tag berichten.
 
Aufstehen, duschen, nochmal ab an den Schreibtisch. Nach dem Frühstücksbrötchen und der Kaffeetasse griff ich nebenbei, das Zusammenpacken meiner Sachen nutzte ich als Break zwischen den Abschnitten, welchen ich immer mal brauche, um nicht irgendwann zu fragen: Alter, was hast du denn da wieder verzapft?
 Am frühen Vormittag hatte ich es dann geschafft. Die Überarbeitung des zehnten Kapitels war im Kasten. Mehr noch: Ich kam sogar dazu, nun endlich mit dem elften Teilstück zu beginnen.
Zufrieden räumten wir schließlich unsere Unterkunft und liefen ein letztes Mal durch Flensburg. Durch Dänemark, Griechenland, Rumänien und die Türkei. Flensburg ist international. Was für eine geile Stadt.
Nachdem wir uns mit Burger und Pommes eindeckten, holten wir am Hafen ein letztes Mal unsere Laptops heraus, dann traten wir die Rückreise an.

Glücklicherweise durfte ich im Auto bis Hamburg mitfahren. Das war gut, denn das, was nun folgte, hätte ich nicht durchgestanden, wenn ich diese Prozedur schon aus Flensburg hätte durchleben müssen.
Die Autobahn war überraschend leer und ich so überraschend schnell am Hamburger Hauptbahnhof. Ich hatte also noch Zeit.
Mein erster Weg führte mich eine nasse, dreckige Treppe hinunter. Ich wusste, dass mich der Drang, Wasser zu lassen, einen Euro kosten würde, aufgrund der Dringlichkeit konnte ich das aber verschmerzen.
Leider irrte ich mich. Den Euro zahlte ich scheinbar dafür, dass ich mich durch unzählige, schwitzende Männer quetschen durfte. Die einen wollten sich nach dem Klogang die Hände waschen, die anderen warteten, gemeinsam mit mir, bis sich irgendwo eine Toilettentür öffnete. Meine ständigen Blicke auf die Uhr verrieten mir dann, dass ich nach zehn Minuten endlich die Klotür hinter mir schließen konnte. Meine Maske abzunehmen kam aber genauso wenig in Frage, wie auf dieser völlig versifften Klobrille Platz zu nehmen. Ich pisste also im Stehen, was für mich eher unüblich und ich daher entsprechend aus der Übung war. Aber noch versiffter konnte das Ding nicht werden, da machte mein geringes Zielwasser keinen Unterschied mehr.
Mein Körper glühte inzwischen wie nach einem 800 m - Sprint, denn die Luft auf dem Herrenklo im Untergeschoss war eine Wand. Mein Shirt triefte, zum Glück konnte ich wenigstens meine Maske wechseln. Das tat ich in Rekordzeit, um möglichst wenig Luft einatmen zu müssen.
Wie schon auf der Hinfahrt wollte ich auch diesmal wieder zum Edeka. Diesmal war es aber kein Bierdurst, der mich die Treppe der Wandelhalle hochsteigen ließ, ich hatte schlicht Hunger.
Im ersten Moment verfluchte ich die Menschenschlange vor dem Edeka. Aber ich sah es positiv. Ich sparte Geld und Kalorien. Mein Konto und mein Körper sollten es mir noch danken.
Mein nächster Weg führte mich Richtung Bahnsteig. Es waren noch gut 40 Minuten bis zur Abfahrt, aber die roten Doppelstockwagen standen schon am Bahnsteig. Und die Richtungsanzeige passte auch. Ich pilgerte noch ein Stück den Bahnsteig entlang, dann suchte ich mir ein schnuckeliges Plätzchen, die Auswahl war noch üppig.
Oder um es konkreter auszudrücken: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, und ich war es  (diesmal) nicht.
Die Leute standen in den Gängen und saßen auf den Treppen, als der Zug sich in Bewegung setzte. Leider bemerkte ich erst in diesem Moment, dass es in dem Wagen, in welchem ich saß, ähnlich roch wie vorhin auf der Bahnhofstoilette. Aber gut, ich hatte einen Sitzplatz, sogar am Fenster, das mit dem Gestank versuchte ich zu ignorieren. In Gedanken bedankte ich mich bei den Menschen in der Schlange vor dem Edeka (ohne euch hätte ich nicht mal mehr einen Sitzplatz abbekommen) und der noch immer geltenden Vorschrift, im Zug eine Maske zu tragen (auch wenn sich nicht jeder daran hielt).
Kurz vor Schwerin dann die Durchsage: »Reisende nach Berlin steigen bitte bereits in Schwerin Süd um, da der Zug zehn Minuten Verspätung hat und der Anschluss sonst nicht garantiert werden könne.« Nun gut, das war jetzt wenig überraschend, zeigte mir der DB-Navigator schon zu Beginn meiner Reise an, in Schwerin-Süd umsteigen zu müssen.
Der Zug erreichte den Vor-Ort-Bahnhof. Menschenmassen fluteten den schmalen Bahnsteig, ich dachte kurz an indische Verhältnisse, 

 

dann an gebrochene Knochen, Blut und und den Tod.
Die meisten Reisenden warteten und drängten sich brav vor der geschlossenen Schranke, andere hatten scheinbar weniger Zeit, sie liefen direkt über die Schienen. Ein deutlicheres Zeichen auf durchfahrende Züge als Schranken, die in die Wagerechte befördert wurden, konnte es ja nun nicht geben. Bis auf schrilles Hupen und quietschende Räder, aber dann war es eh zu spät und so weit kam es an diesem Nachmittag zum Glück nicht.
Auf dem Nachbargleis angekommen, ahnte ich mehr und mehr, was kommen sollte. Meine einzige Hoffnung lag noch darin, dass der Zug aus Wismar kam und bis Schwerin erst zweimal hielt. Wismar lag zwar an der Ostsee, war aber nicht Rostock oder Stralsund. Klar, von Wismar kam man auf die Insel Poel, aber aus Rostock auf den Darß, von Stralsund nach Rügen, das waren andere Hausnummern. Nein, ich ließ mir meine Hoffnung auf einen Sitzplatz nicht zerstören.
Bis der Zug kam.
Ein erster Blick durch die an mir vorbeigleitenden Fenster machte dann jegliche Hoffnung kaputt. Der Zug war schon voll, noch bevor er in Schwerin zum Halten kam.
Natürlich drängte ich mich am Gleis etwas vor. Leider vergaß ich dabei, dass Egoismus irgendwann bestraft wird, und in meinem Fall ging das recht schnell. Der Zug hielt und ich befand mich zwischen zwei Waggongs, musste also zu einer Tür hinlaufen und war so einer der Letzten, die es noch in den Zug schafften. Wie ich dann trotzdem noch einen Sitzplatz auf einer Treppe ergatterte? Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, während andere noch mit der Frage haderten, ob man sich da einfach hinsetzen könne (schließlich säße man dann absolut im Weg), setzte ich mich einfach hin. Mein Zug, meine Treppenstufen, mein Sitzplatz, meine türkische Großfamilie. Immerhin trug die Mutter, die Großmutter, der Vater, einfach alle, eine Maske. Im Gegensatz zur Footballmannschaft auf der Hinreise und andere Fahrgäste auf der Rücksreise.
Ob die Zugbegleiterin eine Maske trug, konnte ich nicht sagen, die sah ich in diesem Zug genauso wenig wie in allen anderen Bahnen, die ich an diesem Wochenende nutzte. Aber sie hatte eine Stimme, die mich an Vanilleeis denken ließ. Das war aber nicht der Grund, weshalb ich nur jedes dritte Wort verstand. Und anderen Fahrgästen erging es genauso. Manche lachten darüber, anderen stand die Panik ins Gesicht geschrieben. Ich dachte an die Menschenschlange vor dem Edeka zurück und möchte über diesen Weg allen Menschen danken, die mich an diesem Sonntag daran hinderten, in den Edeka reinzukommen, um mich mit flüssiger und fester Nahrung einzudecken.

Es fährt ein Zug nach nirgendwo
Doch er hatte kein Klo.
Nicht im ersten, nicht im zweiten Wagen,
nirgendwo.
dumdi dumdi dumdidum


Okay, es war, aufgrund der Menschenmassen, sowieso kein Durchkommen, und wenn doch, dann nur im Tempo einer Schildkröte.
Also, 150 Minuten nicht aufs Klo gehen. Schafft man, wenn man die nötige Disziplin hatte. Einige Menschen hatten diese Disziplin aber nicht. Sie nuckelten an ihren Bierdosen wie Babys an ihren Milchfläschchen, und wenn sie es dann doch mal schafften, die Dose abzusetzen, ließen sie die Mitreisenden wissen, dass sie pissen müssten.
Dann ertönte wieder Vanilleeis.
»Hinter dem krrrps nach krrrps hält der Zug einen Moment länger, damit Reisende krrrps Toilette aufsuchen krrrps
Das stellte ich mir witzig vor. Immerhin waren die Reisenden nun damit beschäftigt, herauszufinden, was krrrps hätte bedeuten können. Aber um es vorwegzunehmen: An keinem Bahnhof hielt der Zug länger als eine Minute.
In Wittenberge stieg die türkische Großfamilie aus. Von nun an reiste ich mit der Wehrsportgruppe Malchin. Der Zug war inzwischen so voll, dass sich wirklich niemand mehr bewegen konnte. 

 

Dazu Alkohol und dem Wunsch nach der Toilette. Die Luft stand im Zug, Menschen schwitzten, versuchten, sich aneinander festzuhalten, während ich weiter auf der Treppe verharrte und mich den letzten Kindern von Schewenborn hingab. Natürlich ist es maßlos übertrieben einen Atombombenabwurf mit einem überfüllten Zug ohne Toilette zu vergleichen, aber das Buch von Gudrun Pausewang untermalte für mich die (Endzeit-)Stimmung. Dazu passte auch, dass irgendwann eine Frau zu singen begann. Ihre Stimme klang nicht nach Vanilleeis, eher nach verrosteten Nägeln. Ich schaute hoch, erkannte aber nichts. Erst drei Stationen später sah ich sie. Inzwischen waren wieder gefühlt drei Zentimeter mehr Platz freigegeben, weshalb sich sofort ein Halbkreis um die in Chantré badende Frau bildete. Die Frau sang, lachte und genoss die Aufmerksamkeit der um sie stehenden Männer. Die Frau war nicht hässlich, aber sie wirkte in ihrer ganz eigenen Art armselig. Ich wartete nur noch darauf, dass sich der Chantré wieder einen Weg aus ihr heraussuchte, aber so weit kam es nicht. Ich konzentrierte mich wieder auf die letzten Kinder von Schewenborn.
Die letzten Kinder im Zug mussten dann auch irgendwann auf die Toilette. Aber das ging nicht. Aber wenn Kinder weinen, also nicht nur rumheulen, weil die Nase juckt oder jemand »Arschloch« gesagt hat, wenn Kinder vor Verzweiflung nicht mehr weiterwissen, dann ist das klar zu hören und keine drei Minuten auszuhalten (es sei denn, man hat die Empathie vom Metall). Das Ende vom Lied war, dass ein Vater die Toilettentür aufbrach, um seine Tochter vor einer ihr unangenehmen Situation zu bewahren.
Und ich muss sagen, ich hätte das Gleiche gemacht, weil ich es irgendwie hätte wieder gutmachen wollen, wenn ich mich schon mit meinen Kindern in das Abenteuer 9-Euro-Ticket im Regionalexpress begebe.

Als ich in Berlin ausstieg, passierten abschließend zwei Dinge:
Mein Körper signalisierte mir in schmerzhafter Deutlichkeit, dass ich für Sitzpositionen, in denen ich die letzten 150 Minuten verharrte, inzwischen zu alt war. Dazu kam, endlich wieder frische Luft einzuatmen. In Berlin. Da wurde mir bewusst, was ich mir durch den Trip mit dem 9-Euro-Ticket eigentlich antat. Sparen ist okay, aber am falschen Ende zu sparen bringt nie etwas.

Zuletzt möchte ich mich, wieder einmal, besonders bei Thorsten Doerp bedanken. Die Dialoge während des gemeinsamen Schreibens mit dir sind immer wieder konstruktiv und inspirierend. Jedes Mal habe ich das Gefühl, wenn wir uns ausgetauscht haben, dass ich mit frischgeputzten Brillengläsern vor meinen Texten sitze.

 


 

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